Das Ziel des Krieges ist Frieden, so meinte Aristoteles. Vielleicht ist das zu einfach. Nicht jeder Krieg ist wie der andere. Es gibt Angriffs- und Verteidigungskriege, Präventivkriege und Vernichtungskriege. Krieg scheint oft eine Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln. Dies setzt voraus, dass sich die Kriegsgegner auf Augenhöhe begegnen. Die internationale Regelung erlaubter und unerlaubter Kriegshandlungen zeigt hingegen, dass Kriege die im Frieden enden der Vergangenheit angehören.
Es gibt internationale Abkommen, die zwar nicht den Krieg als solchen verdammen, aber den Angriff auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Gebetshäuser als Kriegsverbrechen bezeichnen. Außerdem wird der Einsatz von besonders hämischen Massenvernichtungswaffen, wie Giftgas, Phosphorbomben und andere Kampfstoffe international verurteilt. Jene Abkommen hinken den Tatsachen hinterher und haben wenig Einfluss auf die tatsächliche Kriegsführung im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen. Es kommt immer wieder zum Einsatz solcher Kampfstoffe, oftmals sogar gegen die eigene Bevölkerung, und auch Krankenhäuser, Schulen und Gebetshäuser werden immer wieder angegriffen. Es scheint, als sei zwischen legitimer Kriegsführung und Terror nicht mehr zu unterscheiden. Überall zahlt die zivile Bevölkerung den Preis für politische Instabilität. Auf Krieg folgt hier oft kein Friede, sondern die Flucht ziviler Massen und die nachhaltige Destabilisierung ganzer Regionen.
Friede, wie etwa der Westfälische Frieden, mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, war nicht das Ende des Krieges in Europa. Aber er führte mit der berühmten Formel, cuius regio, eius religio, zum Ende der von der Reformation des 16ten Jahrhunderts ausgelösten Religionskriege und zur gegenseitigen Anerkennung der Souveränität und Autonomie zwischen protestantischen und katholischen Staaten und Fürstentümern des 17ten Jahrhunderts. Das Good Friday Agreement führte zur Beendung des Zwistes zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland, und die NATO Intervention im ethnischen Konflikt zwischen Serben und Kroaten im Balkan führte immerhin zu einer mittelfristigen Beruhigung der Zustände im ehemaligen Jugoslawien. Wie auch immer gespannt die Lage dort sein mag, die „ethnischen Säuberungen“ und Massaker der frühen 90er Jahre sind heute eine Sache der Vergangenheit.
Was sind die Kriegsziele, die Israel im Gazastreifen verfolgt, und mit welchen Mitteln wird dieser Krieg verfolgt? Der akute Kampf in und um Gaza wurde durch die Ereignisse vom 7. Oktober ausgelöst. Von Anfang an befürchteten viele Israelis, dass sich die Konfrontation zu einem Mehrfrontenkrieg entwickeln könnte. In der Westbank schwelten bereits seit Monaten die Unruhen, die von Siedlerübergriffen noch weiter geschürt werden. Geschosse fliegen an der Nordgrenze mit Syrien and dem Libanon und neuerdings mischen sich die von Iran gestützten Houthis vom Yemen aus im Süden Israels ein. Dennoch konzentriert sich die Aufmerksamkeit des israelischen Militärs auf den Gazastreifen, der somit auch den größten Anteil der Medienaufmerksamkeit für sich beansprucht. Nach einer kurzen humanitären Feuerpause, die von den Krieg führenden Parteien zum Zweck des Austausches einer Anzahl der von der Hamas und dem islamischen Dschihad am 7. Oktober entführten Menschen gegen die Freilassung palästinensischer Gefangener vereinbart worden war, ist der Krieg wieder in vollem Schwange.
Das Kriegsziel? Es geht Israel, wie es scheint, nicht nur darum, den Hamas militärisch zu besiegen, zu entwaffnen und deren militärische Kapazität zu schwächen, sondern Israels erklärtes Ziel ist es, den Hamas als solchen zu beseitigen und als Faktor von jeder zukünftigen Regelung der Verhältnisse in Gaza auszuschalten. Die Rechtfertigung hierfür, im Gegensatz zu den kriegerischen Handlungen der Vergangenheit, als Israel sich damit zufrieden gab, der Bedrohung durch den Hamas die Spitze abzubrechen („den Rasen zu mähen“, wie man dazu in Israel sagte), ansonsten aber die Machtverhältnisse im Gazastreifen so beließ, wie sie sich seit dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 entwickelt hatten, beruht auf der Tatsache, dass Hamas mittlerweile militärisch zu stark geworden ist, um weiterhin die Rolle zu spielen, die das Regime Netanyahu ihm zugedacht hatte. Statt wie bisher nur als Beweis zu dienen, dass die Palästinenser sich nicht als Friedenspartner eigneten, entwickelte sich der Hamas als ernst zu nehmender militärischer Gegner. Sehr zur allgemeinen Überraschung, so scheint es zumindest, und trotz aller Warnungen seitens der militärischen Überwachungseinheiten Vorort, die von den oberen Rängen des Militärs sowie von der zivilen Regierung ignoriert worden waren, gelang es dem Hamas, mit einer großen Anzahl von trainierten Kämpfern die viel gerühmte elektronisch überwachte Grenze zu Israel zu überrennen und mehr als tausend Israelis, darunter auch Gastarbeiter, Touristen und arabische Beduinen, zu massakrieren, die friedlich und nichts ahnend in den Kibbutzim an der Grenze lebten oder sich aus ganz Israel zu einem Musikfestival im Freien versammelt hatten. Ungefähr 200 Menschen, Alte wie Junge, Kranke und Gesunde, Männer, Frauen und Kinder, wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt und sind zum Teil bis heute dort, ohne dass man über ihren Zustand irgendetwas wüsste. Israels viel gerühmtes Militär und der weithin gefürchtete und geachtete militärische Geheimdienst hatten völlig versagt, genauso wie im Oktober 1973, als Israel am Großen Versöhnungstag an mehreren Fronten von den vereinten Kräften Ägyptens und Syriens überfallen wurde.[1]
Die Bilder des 7. Oktober haben in der israelischen Bevölkerung traumatisch gewirkt. Es war, als habe der Staat Israel die Menschen im Stich gelassen, der Staat, der den Zweck haben sollte, eine Wiederholung der Pogrome Osteuropas und der Shoah ein für alle Mal zu verhindern. Aus israelischer Sicht haben der Hamas und der Islamische Dschihad am 7. Oktober ihr wahres Gesicht gezeigt, nämlich das Gesicht von islamisch-faschistischen Nihilisten, die sich durch ihre Handlungen selbst aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen haben. Die einzig sachgemäße Antwort hierauf schien der totale Krieg, mit dem Ziel den Hamas zu vernichten. Nur dann werde in Gaza der Friede wieder einkehren, wenn Hamas und Islamischer Dschihad beseitigt sind. So jedenfalls die israelische Rechtfertigung für den Krieg in Gaza. An die Befreiung der Geiseln wurde seitens der Regierung Netanyahu zunächst kein Gedanke verschwendet, und auch jetzt ist dieses Ziel, trotz aller Proteste, wieder in den Hintergrund getreten.
Die Kosten an Menschenleben und die Schäden an der zivilen Infrastruktur in Gaza sind überwältigend. Man wird sehen, ob es Israel gelingen wird, den gewünschten militärischen Sieg über Hamas zu erzielen und diese Gruppe als Bedrohung ein für alle Mal auszuschalten. Das Vorbild zu diesem Kampf bildet sicher die Kampagne der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegen den Islamischen Staat in Syrien und Mesopotamien, oder andere von großer moralischer Klarheit gestützte Kriege, wie etwa der Krieg der Alliierten gegen Nazideutschland. Auch dort konnte, zumindest offiziell, nicht davon die Rede sein, die Nazis nach Beendigung des Krieges am Wiederaufbau Deutschlands zu beteiligen.
Viele Menschen sehen den Konflikt in und um Gaza jedoch völlig anders. Überall auf der Welt gingen Menschen fast sofort nach Beginn der kriegerischen Handlungen in Gaza auf die Straße, um gegen Israels Versuch zu protestieren, den Konflikt mit militärischen Mitteln zu lösen. Man stellt die Kriegsziele Israels schon deshalb in Frage, weil nicht der Hamas, dafür aber die palästinensische Zivilbevölkerung den Preis zahlt. Hunderttausende von Menschen waren dazu verdammt, sich innerhalb des Gazastreifens in Sicherheit zu bringen. Die Grenze zu Ägypten wie zu Israel ist ihnen weitgehend versperrt. Alle Versuche Israels, ernst gemeint oder nicht, den Konflikt auf militärische Ziele einzuschränken, scheitern an der Tatsache, dass sich Waffenlager und Kommandozentren des Hamas hinter und unter zivilen Einrichtungen verbergen. So sieht der Kampf Israels mit und gegen den Hamas auf einmal aus wie ein Völkermord an den Palästinensern und die klägliche Abwehr dagegen wie jener Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto, kurz vor dessen Liquidierung. So jedenfalls scheint es, wenn man die Bilder und Filme sieht, die auf den sozialen Medien weltweit verbreitet werden. Die Bevölkerung im Gazastreifen ist außergewöhnlich jung, und so sind zahllose Kinder unter den Toten und Verletzten. Wer gegen diesen Krieg protestiert, tut dies zumeist in der Überzeugung, dass hier Kriegsverbrechen begangen werden und dass der Hamas und wofür dieser steht durch militärische Gewalt nicht zur Strecke gebracht werden können.
Aber wofür steht der Hamas? Was war deren Kriegsziel, als sie die zivilen Siedlungen auf der israelischen Seite der Grenze überfielen und unschuldige Männer, Frauen und Kinder massakrierten? Um was für eine Organisation handelt es sich hier? War der von langer Hand geplante Überfall eine spontane Initiative der militärischen Organisation oder war es die im Exil lebende zivile Führung, die diese Attacke anordnete? Erschien der Angriff deshalb opportun, weil man beobachtete, wie sehr die israelische Gesellschaft von der anhaltenden inneren politischen Krise abgelenkt und demoralisiert war und weil das israelische Militär mit den Unruhen in der Westbank zu tun hatte? War der Hamas überrascht vom Erfolg ihres präzedenzlosen Blitzkrieges? Rechneten sie damit, wie brutal das israelische Militär zurückschlagen würde, ohne Rücksicht auf Krankenhäuser, Schulen, Moscheen oder Einrichtungen der Vereinten Nationen? Oder war dieser Gegenschlag vielleicht genau, was sie erwartet hatten? Ein unvermeidliches Blutbad unter der Zivilbevölkerung, sodass es zu einer Sympathie für die Opfer des 7. Oktober erst gar nicht kommen konnte und die Weltöffentlichkeit sich sofort auf die Seite der Palästinenser schlug und den Hamas nicht mehr als Terrororganisation sah, sondern als Freiheitskämpfer bejubelte? War das die Absicht? Dann hat der Hamas gesiegt und wird auch nach Beendigung der Kampfhandlungen als Sieger aus einem Krieg hervorgehen, dem kein Friede folgen wird.
Menschen, die bedingungslos für einen Waffenstillstand im Nahen Osten eintreten, die dazu aufrufen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, um endlich eine nachhaltige politische Regelung des Nahost Konflikts zu erzielen, setzen voraus, dass dieser Krieg für den Hamas und die Regierung Israels eine Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln ist. Dass nur Diplomatie und nicht Krieg zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts führen kann. Nur so könne es zu einem gerechten und dauernden Frieden zwischen den beiden Völkern kommen, die seit dem UN Teilungsbeschluss vom 29. November 1947 miteinander um dasselbe Land streiten. Das ist grundsätzlich wahr. Nur eine politische Lösung, mit der Israelis und Palästinenser leben können, nämlich zusammen leben können, kann diesen Konflikt beenden. Denn es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei Völkern, die die Herrschaft über ein und dasselbe Land für sich beanspruchen.
Zur Zeit häufen sich jedoch täglich die Hindernisse auf dem Weg zu einer friedlichen und gerechten Lösung des Konflikts. Der Friede wird mit jedem potentiellen Friedensstifter erneut begraben, der unter dem Schutt erstickt, den das israelische Militär Tag um Tag und Stunde um Stunde vermehrt. Allerdings finde ich es erstaunlich, dass sich die Friedensappelle hauptsächlich, oder sogar ausschließlich, an die israelische Seite richten. Als hätten Hamas und Islamischer Dschihad nichts damit zu tun. Als ob sie es nicht waren, die diese besonders heftige Runde der Kampfhandlungen auslösten. Als ob sie nicht immer noch willkürlich Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung abfeuerten. Als ob sie nicht an der Verbreitung von Bildern and Parolen beteiligt wären, die überall auf der Welt nicht nur Hass auf Israels Regierung lenken, was noch verständlich wäre, sondern Menschen dazu bringt, die Vernichtung des Staates Israel als eine gerechte und plausible Lösung des Konflikts zu propagieren. Als ob sie keine Geiseln gefangen hielten. Als ob sie für das Massaker vom 7. Oktober keine Rechenschaft abzulegen hätten. Als ob sie die legitimen Vertreter des palästinensischen Volkes wären und die Waffen im Namen der Beendigung der israelischen Besatzung der Westbank aufgenommen hätten. (Gaza ist seit dem unilateral disengagement Israels im Jahr 2005 nicht mehr besetztes Gebiet.) Wenn man in gut gemeinten Aufrufen zum Waffenstillstand stillschweigend über den Hamas und seine Geschwistergruppierungen hinweggeht, indem man verschweigt, wer diesen Krieg ausgelöst hat und von wem eine Bedrohung des Friedens zwischen Juden und Arabern in Israel und Palästina ausgeht, dann legitimiert und feiert man am Ende die Taten der Hamas oder man entschuldigt diese als Befreiungskampf gegen den bösen und allmächtigen Feind aller Menschen schwarzer und brauner Hautfarbe.
Dies ist der Grund weshalb ich nicht in den Ruf nach Waffenstillstand einstimmen kann. Hier wird zu schnell und ohne nachzudenken das Humanitäre mit dem Ideologischen vermischt. Handlungsfreiheit und Zurechnungsfähigkeit werden hier nur auf einer Seite gesehen. So macht man sich an den Taten dieser üblen Bande mit schuldig, einer Bande, die nichts baut, aber alles zerstört. Die niemanden befreit, sondern sogar die eigenen Leute mit Gewalt kontrolliert. Wenn der Hamas die Zukunft des palästinensischen Volkes darstellt, dann hat dieses Volk keine Zukunft. Das haben die Palästinenser nicht verdient.
Damit soll nicht gesagt sein, dass Israel in Gaza einen Krieg zur Befreiung der Palästinenser führt. Selbst die Auffassung, dass Israel nach der etwaigen Beseitigung des Hamas für die Regelung der Verhältnisse in Gaza verantwortlich sei, halte ich für problematisch. Israel kann die Zukunft des palästinensischen Volkes nicht bestimmen. Das müssen die Palästinenser selbst tun. Israel kann sich auch nicht aussuchen, wer die Palästinenser repräsentiert.
Für die Israelis kam dieser Krieg zu einem äußerst ungünstigen Augenblick. Die von Benjamin Netanyahu geführte Regierungskoalition ist im Auge weiter Teile der israelischen Öffentlichkeit in Misskredit geraten. Netanyahu selbst hat immer noch ein Korruptionsverfahren am Hals. Das Militär sieht sich in der misslichen Lage, die von Mitgliedern der Regierungskoalition geförderten radikalen Siedler in der Westbank zu schützen, obwohl diese mit fast täglichen Provokationen der arabischen Bevölkerung das Leben zur Hölle machen. Und das Vertrauen der Mehrheit in die Regierung litt nachhaltigen Schaden durch die monatelange Auseinandersetzung um die Reform des israelischen Rechtssytems. Netanyahu vertritt eine gesellschaftspolitisch relevante Minderheit, die keine Chance sieht für einen jüdischen und demokratischen Staat, in dem Araber und andere Nichtjuden die gleichen Recht und Pflichten genießen wie jüdische Bürger. Die aus religiösen und nicht-religiösen Parteien zusammengeschmiedete Koalition verfolgt die Annektion der Westbank und die permanente Entrechtung der Araber, wenn nicht sogar deren „Transfer“ über die Grenze nach Jordanien. Die aggressive Siedlungspolitik, der Ausbau der bestehenden Siedlungen und die nachträgliche Legalisierung der illegalen „hill top settlements“, die diskriminierende Infrastruktur mit Straßen ohne militärische Kontrolle, auf der man sich nur mit einem israelischen Kennzeichen bewegen darf, bei gleichzeitig recht engmaschiger Kontrolle jeder Bewegung der palästinensischen Bevölkerung, all das trägt dazu bei, dass von einem politischen Friedensprozess auch auf israelischer Seite nicht die Rede sein kann. Am Zusammenbruch des Oslo-Prozesses sind die radikalen Kräfte auf beiden Seiten schuldig. So muss man sich nicht wundern, wenn sogar die ältesten Freunde Israels, Juden wie Nichtjuden an der Politik Israels verzweifeln. Es gibt auch ermutigende Zeichen. Viele Israelis, Juden wie Araber und andere, haben sich von Anfang für die Rückkehr der Entführten eingesetzt, oft gegen die Kriegsziele der eigenen Regierung. Viele Menschen hat man zum Schweigen gebracht, indem man ihnen vorwarf, die Sache des Feindes zu betreiben. Aber es waren die zahllosen Initiativen der zivilen Gesellschaft, nicht die Politiker und nicht das Militär, die sich um die Überlebenden kümmerten, Menschen abholten und sie in Sicherheit brachten, die für Nahrung und ärztliche Versorgung sorgten und anderes mehr. Es sind dieselben Menschen, die sich von ihrer Regierung nicht einschüchtern lassen, die sich um einen dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinenser:Innen bemühen und sich täglich im Süden Hebrons zwischen die arabischen Hirten und die radikalen jüdischen Siedler stellen. Es gibt diese Menschen auch in Gaza.
Der Schaden, den das Massaker vom 7. Oktober in Israel verursacht hat, und der Schaden, den das israelische Militär im Gazastreifen anrichtet, sind ungeheuerlich. Als bloße Zuschauer sind wir dazu verurteilt, untätig und mit offenem Munde starrend dem zuzusehen, was sich dort mit erbarmungsloser Notwendigkeit abspielt. Man will protestieren und nach einem Ende der militärischen Übermacht rufen, die unter der palästinensischen Bevölkerung Tod und maßloses Leiden herstellt. Der Wille zum Protest erstickt jedoch angesichts der Welle der anti-jüdischen Propaganda, der man sich kaum entziehen kann und die von Leuten ahnungslos weiter verbreitet wird, die bis vor kurzem vielleicht noch nicht wussten, wo Palästina auf der Landkarte zu finden war. Es ist auch irgendwie verdächtig, weshalb ausgerechnet dieser Krieg solche Schlagzeilen macht, wodurch andere Krisen und Konflikte in Vergessenheit geraten. Wer profitiert eigentlich gerade davon?
Und doch lässt sich ein Ende denken, mit dem man leben könnte. Die weltweiten Proteste könnten die internationale Gemeinschaft dazu bewegen, auf die Kriegsparteien Druck auszuüben, der zu einem dauerhaften Waffenstillstand führt. Die israelische Regierungskoalition wird zusammenbrechen, weil das Kriegsziel, den Hamas auszuschalten, nicht erreicht wurde. Bei Neuwahlen kommt eine Mitte-links Koalition, geführt von Benny Gantz, an die Regierung, und zwar mit dem Mandat, sofortige und konkrete Verhandlungen über eine langfristige, gerechte und friedliche Lösung des Konflikts einzugehen. (Die Rechtsreform kommt vom Tisch. Neue Gesetze zur Sicherung der Demokratie und der Gleichheit vor dem Gesetz werden verabschiedet.) Anfangs führt auf der palästinensischen Seite die alte Garde der PLO die Verhandlungen und widmet sich dem Wiederaufbau Gazas. Dann kommt es zu Wahlen, bei denen Leute wie Hanan Ashrawi und der bis dahin aus israelischer Haft entlassene Marwan Barghouti die Führung erringen, da sie für die Einheit der palästinensischen Bevölkerung eintreten und kompromisslos für die Anerkennung ihrer politischen Rechte kämpfen. Sowohl Hamas als auch die PLO verzichten auf ihren Führungsanspruch.
Jenen, die meinen, dieser Krieg sei der Anfang vom Ende des zionistischen Siedlerregimes, möchte ich sagen: auf keinen Fall, und dennoch vielleicht. Israel wird bleiben. Die Juden sind Teil des Nahen Ostens, wie sie es schon immer waren. Sie werden nirgendwo anders hingehen. In dieser Hinsicht also: auf keinen Fall. Aber vielleicht lassen sich der maximalistische Neuzionismus der israelischen Rechten und der messianisch religiös-nationale Chauvinismus der radikalen Siedler irgendwie doch noch einholen, einschränken oder einlenken, sodass vielleicht auch hier ein produktiver, respektvoller und auf Gegenseitigkeit bedachter Stil in der israelischen Politik noch einmal eine Chance hat. Die Zukunft Israels, Palästinas und, so muss man hinzufügen, Jordaniens, hängt davon ab, ob sie auf einer Grundlage von gleichen Rechten und freier Wahl des Wohnsitzes für alle aufbaut, wie auch immer sich die politische Form unter den Bedingungen von kultureller Autonomie und wirtschaftlicher Produktionsgemeinschaft dieser nur als Föderation denkbaren Völker- und Staatengemeinschaft auf dem Gebiet des ehemaligen britischen Mandatsgebiets organisieren lässt. Europa bastelt ja auch noch an so etwas herum, aber hat doch schon Einiges zustande gebracht. Weshalb nicht der Nahe Osten?
[1] Ob der Angriff vom Oktober 2023 zu denselben oder vergleichbaren Folgen fü wie der Yom Kippur Krieg von 1973 bleibt abzuwarten. Zu hoffen wäre es! Denn der Krieg von 1973, verlustreich wie er auf israelischer Seite war, führte zur Wiederherstellung der Ehre Ägyptens nach der Schlappe von 1967, was wiederum dazu führte, dass sich Israel und Ägypten auf Augenhöhe begegnen konnten. So kam es 1979 zum berühmten Friedensschluss zwischen Israel und Ägypten, der in Camp David durch den damaligen US Präsidenten Jimmy Carter vermittelt worden war.